Jahresschlussandacht
Liebe Schwestern und Brüder,
vor einem Jahr habe ich die Predigt zur Jahresschlussandacht mit der Bitte um das Gebet für unseren emeritierten Erzbischof Alois Kothgasser beendet. Sein irdischer Weg fand am Abend des 22. Februar ein Ende, und in der Tat hat das Gebet ihn bis zuletzt begleitet – er ging zum Vater, als wir um sein Bett versammelt die Komplet, das Nachtgebet der Kirche, beteten. Erzbischof Alois‘ Sterben war ein prägender Einschnitt in das Leben vieler. Seine salesianische Prägung zeigte sich vor allem in seinen letzten Lebensmonaten; er freute sich, unter jungen Menschen leben zu können, in der Gemeinschaft des Priesterseminars. Und das Seminar freute sich mit der Erzdiözese, ihn wieder hier begrüßen zu dürfen. Auf seinen letzten Schritten wurde ihm diese Güte gelohnt, er wurde liebevoll von den Seminaristen umsorgt und gepflegt.
Prägend war in diesem vergangenen Jahr auch die abschließende Vollversammlung der Bischofssynode in Rom, an der ich erneut für die Kirche Österreichs teilnahm. Die Erfahrung, die ganze Weltkirche repräsentativ versammelt zu sehen, bleibt beeindruckend. Es zeigte sich, dass das Evangelium wahrhaft in der Welt angekommen ist, es wird bis in die entlegensten Gegenden in allen Sprachen der Menschheit verkündet. Die Versammlung brachte angesichts dieser enormen Bandbreite der Erfahrungen freilich nicht nur Einmütigkeit zutage. Ja, diese Kirche ist eine universale Kirche, aber sie ist keine monotone Kirche. Die Herausforderungen unserer Tage werden auf allen Kontinenten wahrgenommen. Es gibt nirgends eine „heile Welt“. Jedoch konnte ich feststellen: Die benannten Themen und Probleme, die „heißen Eisen“, sind durchaus sehr verschiedene. Was uns in Europa beschäftigt, mögen die Gläubigen in den afrikanischen Ländern durchaus anders, vielleicht sogar gegenteilig sehen – selbiges gilt für jene in Asien oder Amerika.
Man ist versucht, eine solche Kirche als zersplittert und polarisiert wahrzunehmen. Beim deutschen „synodalen Weg“, der sich den spezifisch deutschen Themen auf ganz eigene Weise widmet, war bisweilen gar vom Schisma die Rede. Aber wenn sie im ureigenen Wortsinn verstanden und gelebt wird, kann Synodalität keine Spaltung bewirken und darf es auch nicht. Denn „synodos“, das ist der „gemeinsame Weg“ – in Gemeinschaft trotz möglicher Unterschiede, nicht getrennt und mit gelegentlichen Gemeinsamkeiten. Die Haltung, die ich dabei für essenziell halte, ist die einer positiven Indifferenz. Damit ist nicht Gleichgültigkeit gemeint, in dem Sinne, dass einem selbst das Ergebnis egal sein solle – jedoch so viel Abstand zum Eigenen, zum selbst Eingebrachten zu wahren, dass am Ende das Ergebnis keine Enttäuschung ist, auch wenn es sich vom Erwarteten unterscheidet. Der Heilige Geist ist in all dem der wahre Protagonist, ein Trainer am Spielfeldrand, gewissermaßen – oder, wie ich es von einer Ordensschwester wunderbar gehört habe: „Der Heilige Geist ist die dritte Option.“
Mit einem simplen Ja oder Nein, mit Absolutheitsansprüchen kommen wir nicht weiter – wir können den Glauben keinem reinen Abstimmungsverhalten oder Mehrheitsvotum unterwerfen, wenn er der geoffenbarten Botschaft Jesu Christi im Wesen treu bleiben soll. Zugleich aber müssen wir als Kirche hören und hinhören, offen sein für die Bedürfnisse der jener, die in dieser Zeit nach Sinn suchen. Nicht nur wollen wir mit den Menschen gehen, wir müssen anerkennen, dass es auch jene gibt, die ein Stück des Weges mit uns gehen wollen – vielleicht, obwohl sie nicht alles „unterschreiben“, wie man sagt. Und es sind viele, ja, sehr viele, die so empfinden! Immer wieder verdeutlichen Befragungen in den Medien den steigenden Pessimismus, auch und besonders unter den jungen Menschen.
Dabei müssen wir Acht geben, uns nicht zu sehr auf den Zeitgeist, auf rein diesseitige Erwartungen zu fokussieren. Im bemerkenswerten Buch „Explosive Moderne“ von Eva Illouz habe ich kürzlich gelesen, dass wir heute in ständiger Erwartung leben, die rein materiell, rein innerweltlich doch nie zur Gänze erfüllt werden kann. Solches können wir vielfach auch außerhalb des kirchlichen Kontextes festzustellen. Wir haben ein sogenanntes „Superwahljahr“ hinter uns – und eine jede Wahl, obschon der unumstößliche Garant für das freie und gerechte Gemeinwohl, in dem wir leben, geht mit Versprechen einher, die nicht gehalten werden können. Über diese Tatsache kann kein Wahlkampf hinwegtäuschen oder hinwegtrösten. Besonders dann nicht, wenn er mit Absolutheiten arbeitet, die der Komplexität der Dinge nicht gerecht werden; wenn er allzu einfache, kurze Antworten gibt, wo Besonnenheit verlangt wäre, oder wo vielleicht gar keine Frage gestellt wurde.
In der unvermeidbaren Frustration und Enttäuschung, die aus nie erfüllten Erwartungen resultiert, veranschaulicht sich, was Charles Taylor in seinem Monumentalwerk „Ein säkulares Zeitalter“ zeigte: In bemerkenswert kurzer Zeit – seit dem Ende des Mittelalters – hat der Mensch den Bezug zum Transzendenten aufgegeben. Gewiss verdient das Säkulare auch positive Betrachtung und Bewertung. Wenn wir auch als Kirche nicht alle Entscheidungen der Politik mittragen können, so anerkennen wir ganz klar den Wert der Menschenrechte und der freien Glaubensausübung, welche die Religionspraxis aus der gesellschaftlichen Konvention zurück zur persönlichen Entscheidung führt. Doch letzte Sehnsüchte und Erwartungen vermögen Gesellschaft und Staat in dieser Welt nicht zu erfüllen; sie leben, wie es Ernst-Wolfgang Böckenförde sagte, von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können.
Die positive Indifferenz, die uns in der Synodalität aufgezeigt wird, mag uns hier ein nützliches Vehikel sein, mit dem wir im Dialog vorankommen, ohne uns von persönlicher Kränkung oder Eitelkeit sowie überzogenen Erwartungen zu sehr einschränken zu lassen. Dies betrifft die Entscheidungsfindung in allen möglichen Ebenen der Gesellschaft, von der Synode zum Pfarrgemeinderat, von der Koalitionsverhandlung bis zur täglichen Gemeindepolitik, ja – bis hin in das Private, das Familienleben, das in gewissem Sinne doch die Synodalität im Kleinsten verwirklicht.
All dies ereignet sich in Zeiten, da die Spaltungen und Zerrüttungen der vergangenen Jahre noch kaum verheilt sind. Das Vertrauen in Institutionen ist überall massiv geschwächt. Wie kann dem entgegengewirkt werden? Gibt es ein Rezept? Müssen wir einfach nur einen Schalter umlegen, und das Licht geht wieder an?
Die Kirche verkündet in diesen Tagen die Geburt des Erlösers, des Friedensfürsten Jesus, ganzer Gott und ganzer Mensch. Die Begegnung des Himmels und der Erde in einem Kind, das in Armut, abseits des Fokus der Welt geboren wird. Jahr um Jahr halten wir die Erinnerung an dieses einmalig-einzigartige Geschehen wach, das sich doch in gewissem Sinn immer wieder neu ereignet und uns hoffen lässt: Es wird alles gut ausgehen, wie Karl Rahner es sagte. Für viele ist dementsprechend das Weihnachtsfest heute eine rein säkulare Angelegenheit geworden, in der geschenkt und beschenkt wird. Doch es liegt selbst in diesem Weihnachten, das uns in der Werbung und in den Markständen blendend entgegenstrahlt, ein Funke von etwas, das wir alle aus dem Glauben einmal gelernt haben: Hoffnung.
Hoffnung ist, so habe ich es schon öfter gesagt, Glaube, der nicht sieht und nicht weiß; Glaube, der sich nicht allein an unseren Vorstellungen und Wünschen festmachen lässt. Vor zwei Tagen erst haben wir das Heilige Jahr mit Prozession und Eucharistie eröffnet, wir haben das Kreuz – jenes stärkste Symbol der selbst den Tod überwindenden Hoffnung – an den Ständen draußen vorbei hierher in den Dom getragen. Dieses Heilige Jahr hat von Papst Franziskus das Motto „Pilger der Hoffnung“ zugedacht bekommen. Die Hoffnung ist mehr als bloßer Optimismus oder Erwartung. Sie führt über das Erwartbare dieser Welt hinaus. Abraham, so sagt es uns die Bibel, konnte hoffen, sogar gegen alle Hoffnung.
Freilich wird man uns belächeln, wenn wir in solch unsteten Tagen von Hoffnung sprechen. Viele Gründe dafür scheint uns die Welt von heute nicht zu geben. Der Krieg in der Ukraine und in Israel und Gaza wird mit unverminderter Härte weitergeführt; Radikalisierung begegnet uns an allen Orten; ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit, dafür, dass unser Tun von heute eine Wirkung morgen haben wird, ist weithin kaum vorhanden. Können wir da ernsthaft von Hoffnung sprechen?
Ich sage: Ja! Hoffnung ist jene göttliche Tugend, eingebettet zwischen Glauben und Liebe, von der wir in diesen Tagen als Christen nicht schweigen dürfen. Hoffnung ist uns eingeschrieben, das zerbrechliche und doch so tragfähige Fundament unseres Wirkens und unserer Verantwortung. Zuvor habe ich von einer hörenden Kirche gesprochen. Wir sind eine hörende Kirche, gerade auch dort, wo wir keine fertigen Antworten für alle parat haben. Darin sehe ich den Quellgrund der Hoffnung, die uns trägt und uns zusagt, dass er, der jeden und jede einzelne von uns, hier im Dom und draußen in der Welt, gewollt hat, uns liebt und immer bereit ist, unsere Schritte mitzugehen und zu führen.
So wünsche ich allen ein gesegnetes Neues Jahr, in dem Hoffnung je neu erstrahlen möge.