Werte-Fußabdruck: „Über Letztverantwortungen, an denen man sich nicht vorbeischwindeln kann“
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident!
Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin! Geschätzte Damen und Herren des National- und Bundesrates mit allen parlamentarischen Mitarbeitern!
Schwestern und Brüder aus den verschiedenen christlichen Denominationen!
Von André Gide, einem französischen Literarten, stammt das Wort: „Verstehen Sie mich nicht zu rasch!“ Er richtet diese Mahnung an Paul Claudel, seinem Briefpartner, der ihm, dem Suchenden und Ringenden, zu schnell Glauben unterstellen wollte. Es ist in Zeiten, in denen das Suchen von Maschinen übernommen werden kann – und Google findet immer – wichtig sich an André Gide zu erinnern: Verstehen wir (dennoch) nicht zu schnell!
Im soeben gehörten Evangelium von Matthäus haben wir unsere Identitätszuschreibung als Christen gehört: nämlich Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Ich möchte unsere Aufmerksamkeit auf den ersten Teil lenken, dass wir Salz der Erde seien. Jesus spricht nicht von der Hauptspeise; von einem saftigen Wiener Schnitzel; auch nicht von der Nachspeise, einem süßen Tiramisu, sondern von Salz – von einer Zugabe, die man allein gar nicht essen kann. In der christlichen Auslegungsgeschichte hat man das über weite Strecken vergessen, weil man den zweiten Teil der jesuanischen Aussage „Ihr seid das Licht der Welt“ zu schnell verstanden hatte. Glaube ist demnach nicht die Prämisse, von der sich alle Wahrheiten dieser Welt ableiten lassen. Nach der Fasson, man müsse nur recht glauben und dann ergibt sich der Rest schon von selber. [Die Welt hat einen Eigenstand.] Man kann ihr die Wahrheitsfähigkeit ohne Glauben nicht grundsätzlich absprechen. Wissenschaft und Naturerkenntnis haben ihre Erfolge nach der Aufklärung weithin ohne direkten Bezug auf das Metaphysische gefeiert. Die nicht zu vernachlässigende Frage lautet allerdings: Geht es ganz ohne Rückbezug auf eine letzte Instanz religiöser Art? Dagegen argumentiert der polnische Philosoph Kolakowski. Am Ende seines sehr wechselhaften Lebens sagt er in einem Interview, das posthum erschienen ist:
„Offensichtlich können Einzelne hohe moralische Standards aufrechterhalten und zugleich areligiös sein. Dass auch Zivilisationen das können, bezweifle ich.“
In die gleiche Richtung weist das inzwischen berühmt gewordene Böckenförde-Zitat:
„Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich selbst nicht garantieren kann.“
Diese Voraussetzungen vermag im christlichen Abendland der Glaube, wie er in den verschiedenen Konfessionen und Religionen institutionell – freilich in brüchigen Gefäßen – gefasst ist, zu gewähren. Das ist die Zutat, die die Welt braucht, damit sie nicht den Geschmack verliert. Ich werde in Schulen zuweilen von Kindern gefragt, wie ich mir den Himmel vorstelle. Beim ersten Mal Fragen ist mir ad hoc die Antwort eingefallen, die ich seither immer wiederhole: „Es gibt eine letzte Gerechtigkeit.“ Diese eschatologische Aussage wird gestützt von der rein menschlichen Erfahrung, dass Wahrheit ins Licht drängt. Ich z.B. bin in der Grundschule mit einem Geschichtsunterricht aufgewachsen, in dem von der Katastrophe des 2. Weltkrieges mit einem Holocaust im Zentrum nicht die Rede war. Welch ein Erwachen Jahrzehnte später, als auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens eine Diskussion über Mittäterschaft und schuldiges Schweigen entfacht wurde? Was haben Filme wie „Holocaust“ oder das Stück „Der Stellvertreter“ von Hochhut ausgelöst? Ein schmerzhaftes wie böses Erwachen. Wie ist in der Kirche das Missbrauchsthema – allerdings keine rein kirchliche Tragödie – in der Gefühlslage nicht weniger (was die Sache nur noch schlimmer macht) wie aus dem Nichts entsprungen. Eine verdrängte und vergessene Wahrheit, die nach einer letzten Gerechtigkeit geradezu schreit. Ich möchte weit davon entfernt sein, letzte Antworten geben zu wollen, dazu reiche ich nicht aus; ein Problem liegt gewiss darin, den Moment zu perpetuieren, das eigene Bedürfnis, die eigene Lust, absolut zu setzen. Den Respekt der Menschenwürde von Herkunft und Zukunft nicht aufzubringen. Geschehenes vergeht aber nicht, schon gar nicht Unrecht.
Ereignisse, Einschätzungen und Urteile mögen zu gewissen Zeiten durchaus evident und mehrheitsfähig sein, und sich doch einmal in der Geschichte als falsch erweisen. Dass es Institutionen wie die Kirchen gibt, die man für vor Jahrhunderte altes Unrecht gegenwärtig noch anklagen kann, halte ich für unser aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein und für die Bildung des je einzelnen wie für die allgemeine Gewissensbildung einen Gewinn. Der Papst hat sich erst kürzlich bei den Waldensern, einer Erneuerungsbewegung aktiv zur Zeit des Hl. Franziskus und seither als häretisch eingestuft, entschuldigt. Fortan werden wir mit derartigen Einschätzungen vorsichtiger sein müssen. Das sollte in die DNA religiösen Empfindens eingehen.
Wo liegen die Aufgaben? Seitens des Staates scheint mir die Bitte geboten, Voraussetzungen, die der säkulare Staat nicht garantieren kann, nicht wie als gegeben zu betrachten. Es gibt eine Letztverantwortung, an der man sich nicht vorbeischwindeln kann. Bedenken wir: Auch Werte haben eine lange Genese; man darf nicht so tun, als könne man sie aus dem Moment heraus, aus einer partikularen Situation, schöpfen. Es braucht diese Herkunft, diesen Werte-Ursprung, der das durch die Geschichte gewachsene Wissen, die gesammelten Erfahrungen, die Entwicklungen und Fehlleistungen der Menschheitsgeschichte sammelt und damit die Nachhaltigkeit unserer Werte garantiert. Jede Generation hat auch so etwas wie einen Werte-Fußabdruck – welche Werte wurden ausgereizt, abgeschafft oder gar ent-wertet. Auch wir werden uns anfragen lassen müssen, wie es mit unserem Wertebewusstsein steht, wie wir mit dem uns Überantworteten und Weitergegebenen umgegangen sind.
Ich denke da etwa an die Menschenrechtskonvention, die auf dem Begriff der Personenwürde fußt, der die Unverfügbarkeit des Anfangs und Endes menschlichen Lebens einschließt. Dieser hat eine Herkunft aus einer griechisch, jüdisch-christlicher Geistes- und Glaubensgeschichte.
Als christliche Kirchen und Glaubensgemeinschaften obliegt uns die Aufgabe, Hüter des Salzes zu sein, auf dass es nicht schal wird. Wir kommen aus einer Tradition, der aufgetragen wurde, nicht die Asche zu verwalten, sondern das Feuer zu hüten. Diese Zugabe hilft gegen Werteverschleiß und ist Garant für die Haltbarkeit von Werten.
Mit jeder Bitte verbinden wir auch großen Dank für die Leistungen seitens der Politik und öffentlichen Stellen. Ich weiß, man wird dafür auch zuweilen sehr heftig kritisiert. Ich darf im Namen aller christlichen Kirchen danken für das Engagement und die Verantwortung, die Sie für die Gesellschaft und unser Land übernehmen. In der katholischen Kirche beten wir am Karfreitag in den Großen Fürbitten für die Verantwortungsträger des Staates:
Gütiger Gott,
schau gnädig auf jene, die uns regieren, lenken und leiten,
damit auf der ganzen Welt
Sicherheit und Frieden herrschen,
sowie Freiheit des Glaubens.
Amen.