Salzburger Hochschulwochen 2020
Schwestern und Brüder!
Der Münsteraner Religionsphilosoph Peter Wust hat gegen Ende seines eher kurzen Lebens ein feines wie tiefsinniges Buch mit dem Titel „Ungewissheit und Wagnis“ der Öffentlichkeit präsentiert. Er beginnt das Eingangskapitel mit der Erzählung Jesu vom verlorenen Sohn. Leben ernstgenommen – so kann man resümieren – ist und bleibt Wagnis, stets gepaart mit einem gewaltigen Schuss Ungewissheit. Mit dem Glauben verhält es sich in gleicher Weise! Es gilt zwar, „Glaube ist: Feststehen in dem, was man hofft.“ (Hebr. 11,1) So lesen wir im Hebräerbrief. Glaube fußt jedoch auf Hoffnung. „Hoffnung – so der Apostel Paulus – aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung“ (Röm. 8, 24). Das Feststehen ruht demnach auf wackeligen Grund. Feststehen im Glauben ist demnach immer auch Wagnis, man liefert sich in gewisser Weise der Unsicherheit aus. Das hat in der jesuanische Parabel nur der jüngere Sohn geleistet. Er hat sich der Ungewissheit von Freiheit gestellt. Das Wagnis ging zwar nach allgemeiner Einschätzung daneben; was ihm jedoch niemand mehr nehmen kann, ist sein Mut, Grenzen, die notwendig wie auch beschränkend sind und bleiben, überschritten zu haben.
André Gide hat diese biblische Erzählung erweitert. Der verlorene Sohn (was nicht im Evangelium steht) hatte noch einen jüngeren Bruder. Diesem hatte der Virus wegzugehen, die Sehnsucht nach Freiheit, auch erfasst. Die Mutter spürt dies, ängstigt sich, nicht doch ein soeben geglücktes Wagnis wiederum herausfordern. So schickt sie den nach Hause zurückgekehrten Sohn in die Schlafkammer des jüngsten, um ihn von dessen Vorhaben abzuhalten. Anfangs versucht er es auch, schließlich erkennt der verlorene Sohn angesichts der eigenen Erfahrung die tiefe Sehnsucht bei seinem jüngeren Bruder und stimmt ein. Frühmorgens, als es noch dunkel ist, verlässt er das Haus. Der gerade erst zurückgekehrte leuchtet ihm den Weg hinaus in die Dunkelheit.
Im heutigen Evangelium wird uns auch von so einem Wagnis berichtet. Die Jünger im Seesturm, da kommt Jesus in der vierten Nachtwache über den See geschritten. Immer wieder ist es Petrus, der nach dem ersten Erschrecken das Wort ergreift: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme.“ Petrus wusste nur zu gut, Wasser trägt den schreitenden Fuß nicht. Aber für Petrus gibt es zu diesem Wagnis keine Alternative. Er hat seine Bitte vorschnell geäußert. Nun, er kann nicht mehr ruhig abwartend im Boot sitzen bleiben, bis Jesus ins Boot steigt. Darin erkennen wir einen tieferen theologischen Grund. Für Gott muss man auch etwas tun; ihm entgegen gehen! Beim Evangelisten Markus wird der Gang Jesu über das Wasser auch berichtet. Dort heißt es präzisierend: „Er (Jesus) sah, wie sie sich beim Rudern abmühten. In der vierten Nachtwache kam er zu ihnen; er ging auf dem See, wollte aber an ihnen vorübergehen.“ Jesus möchte vorübergehen. Liegt hierin nicht ein leiser Anklang zur Einladung. Gott will gesehen und gehört werden, angerufen und gebeten, wenn er vorübergeht.
Bleiben wir beim Begriff Vorübergehen. Als Abraham bei den Eichen sitzt, aufblickt und die drei Männer vor sich sieht, bittet er: „Mein Herr, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, geh doch nicht an deinem Knecht vorüber.“ (Gen 18,1)
In der ersten Lesung haben wir die wunderbare Geschichte von Elija am Gottesberg Horeb gehört. Elija, der mit leidenschaftlichem Eifer für den Herrn, den Gott der Heerscharen eingetreten ist, bleibt schlussendlich allein zurück; nicht genug damit: nun trachtet man ihm auch noch nach dem Leben. In diese Situation hinein ergeht das Wort des Herrn an ihn: „Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber.“ (1Kön. 19,11b)
Oder betrachten wir die Berufung der ersten Jünger, da heißt es: „Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes!“
Und vergessen wir nicht: Das Grunddatum jüdisch-christlichen Glaubens ist das Pascha-Mysterium. Pascha heißt Vorübergang; Gott geht vorüber!
Derartige Begegnungen haben mit Veränderung zu tun. Abraham wurde aufgrund seines Glaubens zum Stammvater für viele Völker; Elija wird nach der Erfahrung am Horeb seine Niedergedrücktheit verlieren und mit neuen Mut den langen Weg der überschießenden Aktivität mit daraus resultierender Traurigkeit wieder zurückgehen. Er ist an der Gotteserfahrung im leisen Säuseln des Windes gereift und versöhnt. Für Johannes den Täufer ist eine Freude Wirklichkeit geworden. Er, der zuvor sagte: „auch ich kannte ihn nicht“, darf nur frei bekennen: „Ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist der Sohn Gottes.“
Gleiches gilt für Petrus. Die Begegnung mit Jesus hat aus dem Fischer Simon das Beste herausgeholt, allerdings auch seine seelischen Untiefen. Denken wir an seine Bekenntnisse, die ihm Fleisch und Blut nicht offenbaren konnten. „Herr, wohin sollen wir gehen?“ Gott ist alternativlos. Als Jesus nach der Auferstehung Petrus drei Mal fragt, liebst du mich, antwortet er mit dem letztem Rest seiner Bekenntniskraft: „Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich liebe.“ Man ist hier ja unwillkürlich an das Gedicht von Erich Fried erinnert: Es ist Unsinn, es ist lächerlich, unglücklich, was sonst noch alles. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe!“ Petri Begegnung mit Jesus hat auch schonungslos seine Schwächen gezeigt. „In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich drei Mal verleugnen.“ Petrus musste in der herausfordernden Begegnung mit Jesus ständig neu sein Ändern leben.
Wir sind beim Thema der diesjährigen Hochschulwoche angelangt, ich komme zum Schluss. Michael Theunissen hat den Begriff der „Veränderung“ in die philosophische und theologische Diskussion eingebracht; sich am Anderen ändern. An Erfahrungen des „Anderen“ fehlt es in unserer Zeit ja wahrlich nicht. Die Natur, die Schöpfung verdient einen anderen Umgang, als wir es seit Jahrzehnten praktizieren. Der Mensch, gerade am Anfang und gegen Ende seines kostbaren Lebens, der Mensch in der Not, Krankheit oder auf der Flucht ist anders als es gemeinhin eingeschätzt und erledigt wird. Der Mensch, jeder Mensch, ist nicht nur anders, er ist einzigartig. Ja, hier in der Kirche und auf unseren theologischen Institutionen müssen wir es uns auch sagen lassen. Gott! Deus semper maior! Er ist anders, um nicht gar aus heutiger Perspektive sagen zu müssen: totaliter aliter, ganz anders!
Dennoch er ist unterwegs zu uns. Möchte an den Menschen heute vorübergehen, nicht aufdringlich, sondern leise, wie ein sanftes, leises Säuseln des Windes.
Das allein wäre wohl tiefster Grund und Antrieb unser Ändern zu leben.
Amen.