In der Stille die Einzigartigkeit des Menschen entdecken

Weihnachten gehört für mich zu den prägendsten Erinnerungen meiner Kindheit: karge Dürftigkeit im kleinbäuerlichen Anwesen, geprägt von harter Arbeit. Feiertage gewährten Anlass zum Innehalten. Seliges Warten in heimeliger Atmosphäre. Das Fest der Freude, der Sinne, besonders der Düfte, sonderbar gepaart mit einer leisen Betroffenheit. Die Familie abends gemeinsam um den Christbaum versammelt – in dieser Atmosphäre warten auf das Besondere.
Wir Kinder mit den Eltern, meist schweigsam oder mit wenigen Worten, jeder in dieser gespannten Erwartung. Endlich – zur vollen Stunde erklang aus dem Radio: „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Wie Erlösung! Dieses Lied ist um die Welt gegangen, 2018 feiern wir das 200-jährige Jubiläum! Es gibt mit großer Wahrscheinlichkeit nichts Vergleichbares: ein Lied findet über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg Anklang. Ob klein oder groß, ob Profimusiker oder Zuhörer, alle singen oder hören dieses Lied mit Andacht.
Eine menschlich-göttliche Hymne
Es gibt meines Wissens auch kein Lied, das so sehr an eine bestimmte und geprägte Zeit gebunden ist wie „Stille Nacht, Heilige Nacht!“ Es wird nur in der Weihnachtszeit gesungen und gespielt. Einzigartig. Doch es gibt einen Ort auf der Welt, wo das Lied „Stille Nacht“ auch das Jahr über gesungen werden kann, das ist in Bethlehem in der Geburtsgrotte. Niemand hat das so vorgeschrieben, die Menschen scheinen zu wissen, zu ahnen: Dieses Lied gehört in eine geprägte Zeit, es ist zu einer menschlich-göttlichen Hymne geworden.
Es besingt eine Einsamkeit, die tief im Menschen gespürt wird: „Alles schläft, einsam wacht ...“. Es gibt diese zutiefst menschliche Grunderfahrung, wenn rundherum alles zu schlafen scheint, nur ein Ich ganz allein wachen muss: tiefe Trauer, höchste Verliebtheit, schwerste Enttäuschung oder größtes Glück. Einsamkeit und Wachsamkeit gehören zusammen. Diese zutiefst menschliche Grunderfahrung ist zuinnerst auch göttlich inspiriert: Es ist schon interessant, dass die Menschwerdung Gottes nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie stattgefunden hat, nicht in Jerusalem, der Heiligen Stadt, wo der Tempel stand, wo alle religiöse Kompetenz versammelt ist – nein, nicht dort, sondern in Bethlehem, gleichsam im toten Winkel von Jerusalem, haben sich Himmel und Erde innerlich berührt: „... da uns schlägt die rettende Stund‘, Jesus, in deiner Geburt.“
Feind des Menschen: Oberflächlichkeit
Verstärkt wird dieser Gedanke noch dadurch, dass nicht die eigentlich für religiöse Belange Zuständigen das Ankommen wahrgenommen haben. Sie waren vermutlich nicht einsam, konnten sich gemächlich auf ihrer wohldurchdachten Lehre ausruhen, sie mussten nicht wachsam sein. Hirten werden in alten rabbinischen Texten mit Räubern und Dieben in einem Atemzug genannt. Aber sie waren wachsam, hielten Nachtwache bei ihrer Herde. „Hirten einst kundgemacht durch der Engel Halleluja: Jesus, der Retter ist da!“
Stille hilft, Einzigartigkeit zu entdecken
Was bedeutet das für uns? Fliehen wir nicht die Einsamkeit! Der eigentliche Feind des Menschen ist die Oberflächlichkeit, die Gedankenlosigkeit. In der „Stille“ werden wir unsere Einzigartigkeit ein wenig mehr entdecken können, aber auch jene unserer Mitmenschen. Nur so vermag gemeinsames Leben und Dialog, aus Respekt, in Ehrfurcht und Verantwortung füreinander gelingen. Nur so kann der heutige Mensch Gott entdecken: „Durch der Engel Halleluja“.
Dazu ermutigt die „Stille Nacht und Heilige Nacht“ des Weihnachtsfestes. So möchte ich allen Menschen in unserer Erzdiözese ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen!
Ihr Erzbischof Franz Lackner
Den Weihnachtsfolder der christlichen Kirchen Salzburgs (Titelbild des Folders: Anna Steinpatz) finden Sie <link file:85261 _blank>hier