„Ich erfreue mich großer innerer und äußerer Freiheit“

RB: Lieber Herr Erzbischof, am 29. Mai feiern Sie Ihren 80. Geburtstag. Wie geht es Ihnen?
Em. EB Kothgasser: Mir erscheint es so ganz unwahrscheinlich, schon im 80. Lebensjahr angekommen zu sein. Es geht mir Gott sei Dank gut. Ich habe keine größeren Sorgen und keine schwerere Verantwortung, außer der Mitverantwortung für die Kirche Gottes und für den Gang der Geschichte und die Gestaltung unserer Welt in unserer vielfach bedrängenden und belasteten Zeit. Ich erfreue mich einer relativ großen inneren und äußeren Freiheit.
RB: Sie sind seit Jänner 2014 in Pension; wie schaut der Tagesablauf eines emeritierten Bischofs aus? Haben Sie noch „Termine“ zu beachten?
Em. EB Kothgasser: Ja, es stimmt, seit Jänner 2014 bin ich in „Pension“. Von einem „Unruhestand“ zu reden, wäre übertrieben. Langeweile hatte ich bisher nie in meinem Leben, auch jetzt nicht. Um 6.00 Uhr morgens beginnt für gewöhnlich der „Aufstand“. Die ruhige Zeit des Gebetes eröffnet den Tag und weitet den Blick für den Dank und die Anliegen der Menschen. Den Gottesdienst feiere ich entweder am Morgen oder am Abend mit der Gemeinschaft der Don-Bosco-Schwestern in Baumkirchen oder auch mit Gruppen, die zu verschiedenen Veranstaltungen im Bildungs- bzw. Exerzitienhaus ihre Fortbildung halten. An Samstagen und Sonntagen bzw. Festtagen bin ich als „Wanderbischof“ – wie in urchristlichen Zeiten – in Pfarrgemeinden unterwegs, meist in den Diözesen, wo ich als Bischof tätig war, häufig im Tiroler Teil der Erzdiözese.
Die Begegnung mit Kindern vom Kindergarten, mit Jugend- bzw. Schülergruppen und anderen bildungseifrigen Menschen geben Gelegenheit zu Gesprächen, seelsorglichem Austausch oder auch zur Beichtgelegenheit. Einige Male im Jahr halte ich Exerzitien für Priester, Ordensleute und kirchliche bzw. pastorale Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Viele Aufgaben, die ich im Lauf meines Hirtendienstes hatte, konnte ich anderen übergeben und mich nur mehr auf wenige beschränken.
RB: Wenn Sie auf die vielen Jahre Ihres priesterlichen, bischöflichen Dienstes in der Kirche zurückdenken, welche Momente, Ereignisse, Begegnungen haben Sie am meisten berührt, sind Ihnen unauslöschlich dankbar in Erinnerung geblieben?
Em. EB Kothgasser: Die vielen Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Art, mit ihren vielfältigen Anliegen. Unvergesslich bleiben mir die vielen Besuche in den Schulen, die Spontaneität und Offenheit der Kinder und Jugendlichen in Stadt und Land, unter ihnen Angehörige unterschiedlicher Religionen. Vieles habe ich erfahren und gelernt bei den Besuchen in den Pfarrgemeinden, bei den Gesprächen mit den Pfarrgemeinde- und Pfarrkirchenräten, mit den Bürgermeistern und Gemeinderäten, den Verantwortlichen der vielen Vereine, die es Gott sei Dank gibt. Oft konnten wir das viele Gute entdecken, das für die Menschen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichsten Situationen getan wird.
Beeindruckend waren immer auch die Krankenbesuche vor Ort oder in Senioren- und Pflegeheimen. In Lofer kam mir eine Seniorin entgegen und sagte: „Grüß dich, alter Freund!“ In Radfeld bei Rattenberg besuchte ich eine Frau, die in der Zeit der Begegnung 100 Jahre alt wurde. Nach einem längeren Gespräch gratulierte ich ihr und gab ihr einen kräftigen Segen. Bei der Verabschiedung nahm sie meine beiden Hände und sagte: „Herr Erzbischof, so eine Freude, so eine Freude – i stirb, i stirb!“ „Um Himmels willen“, sagte ich, „dazu bin ich nicht gekommen.“ Sie hat noch länger gelebt.
RB: Als Bischof hat man immer wieder auch Schweres durchzutragen, wo man vielleicht auch eine gewisse Einsamkeit in seinem bischöflichen Dienst erfährt; Augenblicke der Enttäuschung, wo die Last des bischöflichen Dienstes spürbar wird. Können und wollen Sie uns auch dazu etwas anvertrauen, vielleicht auch als Mahnung und Erinnerung um dies nicht zu verdrängen? Spontan würde einem ja das Thema „Lebensschutz“ und die Gefährdung durch politische Entscheidungen einfallen.
Größte Sorge meines Bischofsdienstes: die umfassende Sorge für das Leben
Em. EB Kothgasser: Ja, es gibt auch Schweres durchzutragen, wo man sich im Nachhinein fragt: Was habe ich versäumt, was habe ich übersehen, was nicht richtig erkannt, warum nicht rechtzeitig gehandelt, Hilfestellungen ermöglicht. Da hat mir nicht selten mein Wahlspruch „Die Wahrheit in Liebe tun“ (Eph 4,15) das Gewissen angerührt, aber auch geholfen. Zwei Mitarbeiter haben ihr Leben vor der Zeit selbst beendet. Solche Ereignisse lassen einen nicht los.
Damit hängt ein zweites Thema zusammen, das mir nicht wenig zu schaffen gemacht hat und als größte Sorge meines Lebens und meines Dienstes auch weiterhin begleitet: Die umfassende Sorge für das Leben. Dieser Sorge habe ich meinen längs-ten Hirtenbrief gewidmet mit dem Titel „Wähle das Leben!“. Das gilt für alle Phasen menschlichen Lebens. Wo der Mensch sich am Leben, vor allem am schwächsten und wehrlosesten Leben vergreift, gibt es keine Garantie und keinen Schutz mehr für das je eigene Leben.
Noch eines sehe ich als eine schwere Notlage in unserer Gesellschaft. Ich weiß sehr wohl, wie komplex die politische Ge-staltung für eine umfassende und gerechte Lebensordnung geworden ist. Wenn aber persönliche, parteiliche, kollektive Egoismen überhand nehmen und es vielfach nur mehr um eigene Vorteile geht und nicht mehr um das „Gemeinwohl“ und die soziale Gerechtigkeit für die Schwächsten in der Gesellschaft, dann beginnt der Zerfall des menschlichen Miteinander und Füreinander.
RB: Was wünschen Sie sich für sich, für unsere Erzdiözese, für die Kirche?
Em. EB Kothgasser: Für mich wünsche ich persönlich für die Zeit, die Gott mir schenken will, Dankbarkeit für Gott und all den Menschen gegenüber, die mir so viel Vertrauen geschenkt haben und immer noch schenken. Für die Kirche in unserer Erzdiözese und in unseren Suffraganbistümern erbitte und wünsche ich „Gute Hirten“, die ihr Leben und Wirken ganz in den Dienst der Hingabe an Gott und die Menschen stellen, und gute Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für das Evangelium und für die Nöte der Menschen, besonders der Armen einsetzen, wie dies unser Papst Franziskus Tag für Tag in Wort und Tat tut.
Zur Person:
Alois Kothgasser wurde am 29. Mai 1937 in Lichtenegg, Pfarre St. Stefan im Rosental (Steiermark) geboren. 1955 Eintritt in den Orden der Salesianer Don Boscos; Studium in Turin, Priesterweihe am 9. Februar 1964 in Turin; 1968 Promotion zum Doktor der Theologie. 1969 bis 1997 Lehrtätigkeit in Rom und Benediktbeuern. Am 10. Oktober 1997 Ernennung zum Bischof von Innsbruck. Am 23. November 2002 zum Erzbischof von Salzburg gewählt; vom 10. Jänner 2003 bis 4. November 2013 Erzbischof von Salzburg. Dr. Alois Kothgasser wohnt seit seiner Pensionierung bei den Don-Bosco- Schwestern in Baumkirchen, Tirol.
Fotos (roi): Em. Erzbischof Kothgasser hilft als „Wanderbischof“ immer wieder aus; hier im Vorjahr bei der Sendungsfeier zur Sternsingeraktion der Salzburger Katholischen Jungschar.
Der Schutz des Lebens war und ist em. Erzbischof Kothgasser das wichtigste Anliegen. Deshalb initiierte er das „Forum Neues Leben“, das u. a. die „Woche für das Leben“ organisiert.