Heiliger Abend
Liebe Schwestern und Brüder!
Im Bischofshaus sind zu meiner Freude und auch Belehrung des Öfteren die Enkelinnen und Enkel meiner Haushälterin zu Gast; stets ein schönes und für mich lehrreiches Erlebnis. Zwischen den fünf Kindern beträgt der Altersunterschied an die acht Jahre, demnach gibt es verschiedene Interessen. Was alle gemeinsam gerne unternehmen, ist das Versteckenspielen – und es gibt viele geeignete Winkel, wo man sich in diesem alten Haus verstecken kann.
Mit Blick auf Weihnachten hat mich dies an eine rabbinische Geschichte erinnert. Zu Rabbi Baruch kam sein kleiner Enkel, weinend. Als er ihn fragte, was denn geschehen war, antwortete der Kleine, er habe mit anderen Kindern verstecken gespielt, und er habe ein wunderbares Versteck gefunden, aber niemand habe ihn gesucht. Der Rabbi versuchte den Enkel zu trösten und sagte zu ihm: „Schau, so geht es dem Allerhöchsten mit uns Menschen: Er möchte gefunden werden, aber niemand sucht ihn.“ Offenbar liegt eine Sehnsucht tief im Menschen wie auch in Gott ver- und geborgen, nämlich gesucht zu werden. Nicht das Gefundenwerden ist oberste Intention, sondern die Suche. Ein wunderbares Wort des Heiligen Augustinus, das ich frei wiedergebe, lautet: Weil ich dich, oh Gott, gefunden habe, suche ich dich.
Bethlehem, der tote Winkel von Jerusalem; der Stall, weil in der Herberge kein Platz war; die Wiege eine Futterkrippe – all das sind Verstecke Gottes. Wer waren die ersten Suchenden? Hirten, die die Kunde vernommen hatten; die Weisen machten sich auf die Suche, denn in den Sternen hatten sie eine sonderbare Konstellation entdeckt; alte Menschen wie Simeon und Hanna, hatten sich in ihren Herzen eine Sehnsucht nach Gott, nach dem Heiland bewahrt, die sie zu hoffenden Menschen machte. Sie alle wurden in ihrer Suche nicht irregeführt. Die Hirten kehrten frohlockend zu ihren Herden zurück; die Weisen zogen auf einem anderen Weg in ihr Land heim, und der alte Simeon mochte getrost sterben, seine Augen hatten das Heil gesehen.
Diese drei Personengruppen öffnen Perspektiven auch für uns auf unserer Gottessuche. Wo sind wir bei unserem doch sehr hohen Lebensstandard dennoch arm geworden? Wo sind die toten Winkel in unseren Herzen? Wo sind wir im so genannten christlichen Abendland, auf ureigenem Terrain doch Fremde geworden? Nicht etwa aufgrund der Zuwanderung, sondern weil wir uns vom Ursprung entfremdet und entfernt haben; weil wir vergessen haben, dass wir Gott vergessen haben. Doch durch die Geburt des göttlichen Kindes sind aus Irrwegen Hoffnungswege geworden, Suchwege mit Ausblick auf Sinn, oder wie es Jesus selbst benennt: „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt in Fülle.“
Liebe Schwestern und Brüder, wir feiern Weihnachten, eine Zeit der Gnade. Schärfen wir unseren Blick, unsere Aufmerksamkeit für das, was uns fehlt, und erneuern wir in uns die Sehnsucht, dass auch unsere Augen das Heil des Lebens zu erkennen vermögen, auf dass ein guter Stern uns den Weg zeige, zur Ehre Gottes und zum Wohle der Menschen.
Der Friede sei mit euch.
Amen.