Bolivien. Lara wird jede Nacht von Albträumen geplagt. Maria kann das Bild ihres Vergewaltigers einfach nicht vergessen. Davids eigene Mutter wollte ihn in eine Zisterne werfen und Pedros Stiefmutter hätte ihn im Drogenrausch beinahe mit einem Gartenschlauch erwürgt. „Lieblinge Gottes“ nennt Sr. Clara Erlbacher diese Mädchen und Buben. In ihrem Heim „Maria Jacinta“ dürfen sie das erste Mal in ihrem Leben einfach nur Kind sein. Schwester Clara ist für sie nicht nur die Direktorin des Hauses. Sie ist eine Mutter, die ihnen Liebe und Fürsorge schenkt.
RB: Warum laufen so viele Kinder in Bolivien von daheim fort und leben lieber auf der Straße als bei ihren Eltern?
Sr. Clara Erlbacher: Weil es zu Hause in vielen Familien nur Gewalt und sexuellen Missbrauch gibt und die Mutter auf Seiten des Vergewaltigers ist, das ist fast immer der Stiefvater. Oft hat die Mutter keinen Beruf und keine eigene Wohnung und ist so finanziell vom Mann abhängig. Sie tut alles, damit er nicht eingesperrt wird und wenn, dann gibt die Mutter dem Mädchen die Schuld an der schwierigen Situation. Der Ausweg ist die Straße. Das Leben auf der Straße bedeutet Drogenkonsum und Prostitution.
RB: Sie nehmen diese Kinder in Ihrem Heim „Maria Jacinta“ auf. Wie gehen Sie mit den schlimmen Erfahrungen Ihrer Schützlinge um? Was braucht es in der ersten Zeit am meisten?
Sr. Clara: Ein Zuhause wo sie Liebe und Geborgenheit erleben, wo sie sich angenommen und beschützt fühlen. Es gibt zahlreiche traurige Geschichten. Die traurigste ist sicher jene über ein Mädchen, das fast ein Jahr im Gefängnis war. Gemeinsam mit der Mutter und ihrer kleineren Schwester musste sie in der gleichen Zelle mit ihrem Vergewaltiger leben. Als wäre das nicht schlimm genug,
wurde sie von der Mutter noch an andere Gefangene zur Prostitution verkauft.
Ein weiteres unserer Kinder ist Erica. Eine reiche Familie überredete ihre Eltern, die in einem abgeschiedenen Dorf leben, dass sie ihnen das Mädchen geben. Sie versprachen, Erica dürfe mit ihrer Tochter in einer Privatschule studieren. Nach acht Jahren gelang es Erica aus dem Haus der reichen Familie zu fliehen. Sie durfte nie zur Schule gehen und musste stattdessen hart arbeiten. Außerdem wurde sie misshandelt, mit Messern geschnitten und gestochen. Jetzt lebt sie bei uns. Eine freiwillige Helferin lernt mit ihr am Vormittag lesen und schreiben und am Nachmittag geht sie in einen Kochkurs. Wir hoffen sehr, dass wir ihre Eltern auffinden können.
RB: Neben all dem Leid, was ist das Schöne und Erfüllende bei Ihrer Arbeit mit den Kindern?
Sr. Clara: Am schönsten ist es für mich, wenn sich nach so viel Traurigem, das am Anfang von Angst und Leid verzerrte Gesicht nach Wochen in ein dankbares Lächeln verwandelt. Für mich sind diese Kinder die Lieblinge Gottes. Wie kann ich da nicht für sie da sein?
RB: Am Sonntag ist Muttertag. Welchen Stellenwert hat dieser Feiertag in Bolivien?
Sr. Clara: Für den Feiertag gibt es im Land vor allem „Geschäftspropaganda“ und Sonderangebote. Es dreht sich alles um die Frau und Mutter. Im normalen Alltag und in der Gesellschaft wird die Frau aber häufig nur als zweitrangige Person wahrgenommen.
RB: Wird der Muttertag bei Ihnen im Heim „Maria Jacinta“ auch gefeiert?
Sr. Clara: Keines unserer Kinder kann einen Besuch zu Hause machen und eine Mutter kann das Kind nur mit gerichtlicher Erlaubnis besuchen. Die Kinder bereiten am Muttertag trotzdem Überraschungen vor – für mich als Direktorin und „Mutter-Ersatz“. Ohne Zweifel erfülle ich im Heim das Bild der Mutter. Ich bekomme Karten und Dankbriefe, die mir bei einer kleinen Feier übergeben werden.
RB: Was bedeutet die Unterstützung aus der Erzdiözese Salzburg und durch SEI SO FREI ?
Sr. Clara: Vor kurzem brachten mir die Behörden um Mitternacht ein Mädchen. Der Vater ist gestorben. Die Kleine hatte nichts mehr zu essen. Sie reiste 22 Stunden mit dem Autobus, um in Santa Cruz Arbeit zu finden. Sie landete in der Prostitution. Wir haben sie aufgenommen. Das können wir nur tun, weil wir Spenden aus Österreich bekommen. Zu 90 Prozent hängen wir davon ab. Wenn wir diese Hilfe nicht hätten, könnten wir zusperren. Ich denke mir oft: Was würde nur mit unseren Kindern passieren? Niemand hat Platz, alle Heime sind voll, dazu sind das alles Massenbetriebe, wo die Kinder nur eine Nummer sind.
Ingrid Burgstaller