Abstürzen ist ganz leicht
Salzburg. Treffpunkt für den Stadtspaziergang „Überleben“ ist der Südtiroler Platz direkt vor dem Haupteingang des Bahnhofs. „Heute ist das für mich ein Platz wie jeder andere“, versichert Aigner. Er unterstreicht auch, dass „hier oft alles anfängt“. Bei ihm sei schon vorher, daheim im Pinzgau, einiges schiefgegangen. In der Anonymität der Stadt wollte er untertauchen und sei dann am Salzburger Bahnhof hängengeblieben. Es sei schon ein hartes Pflaster, „aber es konnte auch lustig sein. Du warst nicht allein, hast mit der Zeit alle und die dazugehörigen Geschichten kennen gelernt. Nur wenn du auf Dauer übrigbleibst, ist das halt eine andere Sache“. Jeden Tag dieselben Fragen: „Wo übernachte ich? Wie bekomme ich etwas Geld zusammen?“ Beim Betteln habe er sich geschämt. Aigner erzählt frei von der Leber weg und vor allem vollkommen ungeschönt von diesen Jahren. Er berichtet außerdem wie der Bahnhof zweimal – zumindest indirekt – sein Leben veränderte. Zum einen habe er hier seine Frau getroffen. Zum anderen habe hier eine Aktion ihren Anfang genommen, die ihn ins Gefängnis brachte. Seine Evelyne habe damals gesagt: „Auf den warte ich!“ Es sollte sieben Jahre und 2.500 Briefe dauern. „Wir haben uns täglich geschrieben.“
Nur vier Monate nach der Entlassung gaben sich Evelyne und Georg Aigner das Jawort. Evelyne war schon „Apropos“-Verkäuferin. „Ich bin jetzt zehn Jahre dabei“, so Aigner, der betont: „Die Stadtspaziergänge sind das Größte, was mir bei Apropos bislang passiert ist.“ Drei Touren bietet er im Jubiläumsjahr der Salzburger Straßenzeitung – Apropos wird heuer 20 – an.
1. Schritt zurück ins Leben
Zweite Station des Stadtspaziergangs „Überleben“ ist der Bahnhofsozialdienst. Für viele Obdachlose ist der kurze Weg vom Bahnhof zur Adresse in der Ferdinand-Porsche-Straße ein großer Schritt – der erste Schritt zurück ins System. „Der Bahnhof geht an die Substanz, nachts weckt dich alle zwei Stunden die Polizei auf, ständig musst du auf deine Sachen aufpassen. Gestohlen wird dort viel, irgendwann gehst du dann gern zum Bahnhofsozialdienst“, erinnert sich Aigner. „Dort wird man normal angeredet, egal wie man aussieht, bekommt eine Zuweisung in eine Notschlafstelle, 365 Tage im Jahr.“
Für ihn sind es genau diese Orte, wo man einen Platz zum Übernachten oder etwas zu essen bekommt, die am meisten ausmachen; genauso wie die positiven Gespräche, wenn man es geschafft hat, eine Sozialeinrichtung aufzusuchen: „Da entsteht wieder Hoffnung, auch wenn man sie verloren hat.“ Bedürftigen wird erklärt, dass ihnen Unterstützung zustünde, sie werden auf die Rückkehr ins System vorbereitet, mit Kleiderspenden, Frühstück, Abendessen, Informationen zum Wiedereinstieg in den Wohn- und Arbeitsmarkt, werden auf so basale Dinge hingewiesen, wie dass man einen sauberen Pulli tragen sollte, wenn man für eine Wohnung vorspricht. „Der erste Eindruck zählt“, sagt Georg Aigner. „Vor allem, wenn es um den ersten Schritt zurück ins Leben geht.“
Hilfe annehmen fällt schwer
„Salzburg ist schon sozial“, ist der Apropos-Verkäufer und frisch gebackene „Stadtführer“ überzeugt. „Es gibt Einrichtungen, wo einem geholfen wird, hingehen muss man aber auch.“ Für viele ist dieses Hingehen eine doppelte Hürde: Neben dem fehlenden Wissen darum, welche Unterstützung man in Anspruch nehmen könnte, ist es vor allem die Scham, die Menschen außerhalb des Systems verharren lässt. „Niemand will zugeben, dass er nicht zur Mittelschicht gehört. Menschen wollen nicht wahrhaben und schon gar nicht preisgeben, wie schlecht es ihnen geht. Kein Apropos-Zeitungsverkäufer verkauft dort, wo er herkommt, wir wollen nicht, dass andere Leute wissen, wie es uns geht. Bei mir hat es lange gedauert, Hilfe überhaupt anzunehmen.“ Auch im ehrenamtlich betriebenen SOMA-Markt, der dreimal pro Woche für Menschen mit Sozialhilfebescheid offen steht, zeigt sich, dass die Scham groß ist: „60 bis 80 Menschen kaufen dort jedes Mal ein, zu 80 Prozent Ausländer. Die Österreicher wollen nicht, dass jemand sie sieht.“
Bürokratie durchblicken
Es sind nur 300 Meter Luftlinie. Doch bei Aigner dauerte es sechs Monate, bis er den Weg vom Bahnhof bis zum Sozialamt schaffte. „Da sind Leute, die stellen Fragen, da muss man sein Versagen eingestehen, seine Schuld offenlegen. Das sind happige Dinge“, beschreibt er die Bedenken von damals. „Wenn einem jedoch lang genug zugeredet wird – wie mir von den Mitarbeitern des Bahnhofsozialdienstes – dann traut man sich irgendwann zum Sozialamt, das ist er erste Weg Richtung Arbeitsamt.“ Wenn keine Papiere mehr vorhanden sind, ist dafür zunächst eine Nichtmeldebestätigung erforderlich, die die Sozialberatung SAG ausstellt. „Das ist der wichtigste Zettel überhaupt, der haut dich wieder ins System.“
„Armut hat viel mit Information zu tun“, weiß Aigner. „Wenn Menschen auf Briefe von Ämtern nicht mehr reagieren, ist das ein Warnzeichen. So stürzen die meis-
ten ab. Die Menschen kennen sich nicht aus, die Bürokratie ist das Problem.“ Für viele ist es auch schwierig, neben einem fordernden Job und dem Druck am Arbeitsmarkt, überhaupt die Zeit zu finden, Mindestsicherung zu beantragen, selbst wenn sie wissen, dass sie ihnen zustünde. „Wenn immer die Angst da ist, dass man nicht über die Runden kommt, dass unvorhergesehene Kosten in den Abgrund treiben, macht das krank.“ Da bräuchte es jemanden, der einen berät und unter die Arme greift.
Was ihm persönlich geholfen hat, im Leben wieder Fuß zu fassen? Da muss Georg Aigner nicht lange überlegen: „Die Straßenzeitung Apropos und meine Evelyne.“
Fotos (ibu/sab): Am Bahnhofsvorplatz startet Georg Aigners Apropos-Stadtspaziergang – er erzählt wie es sich als armer Mensch in Salzburg überleben lässt.
Soma – im Sozialmarkt können Menschen mit geringem Einkommen einkaufen. „Doch die Scham herzukommen ist groß.“
Salzburg dreimal anders
Seit 1. Dezember 1997 gibt es die Salzburger Straßenzeitung zu lesen. Nun können die Geschichten der Straße auch gehört und gesehen werden. Apropos-Verkäufer Georg Aigner nimmt Sie mit auf die drei Stadtspaziergänge „Überleben“, „Spurwechsel“ und „Schattenwelt“. Detailgetreu und authentisch erzählt er aus seinem Leben und welche Rolle die einzelnen Stationen dabei spielen.
ÜBERLEBEN (jeden Donnerstag, 15.00 – 16.30 Uhr): Der Bahnhof ist nicht nur eine Drehscheibe für Reisende und Pendler, sondern auch für Wohnungs- und Obdachlose. Bei dieser Tour erfahren Sie, wo arme Menschen übernachten, wo sie güns-tig Lebensmittel einkaufen und wie es sich anfühlt, täglich ums Überleben zu kämpfen.
SPURWECHSEL (jeden Dienstag, 9.30 – 11.00 Uhr): Wenig Geld und viel Zeit sind die zwei Hauptzutaten im Leben eines armen Menschen. Auf dieser Tour erzählt Georg Aigner, wie sich lange Tage gut bewältigen lassen, wo man günstig ein warmes Mittagessen erhält, wie man Anschluss an andere findet und wie wichtig es ist, eine Aufgabe zu haben.
SCHATTENWELT (letzter Mittwoch im Monat, 18.00 – 19.30 Uhr): Verborgen hinter Festspielhäusern und Schmuckpassagen finden sich Anlaufstellen für bedürftige Menschen. Einmal im Monat zeigt der Apropos-Verkäufer jene Orte in der Salzburger Altstadt, an denen belegte Brote und Getränke, Gutscheine oder auch Bargeld ausgegeben werden.
Reservierung: stadtspaziergang@apropos.or.at, 0662/87 0795-23, Verena Siller-Ramsl (Mo., Mi. & Do.); Erwachsene: 10 Euro, SchülerInnen & Studierende: 5 Euro (geeignet ab 14 Jahren); Dauer: 1,5 Stunden.
20 Jahre Apropos:
Die Salzburger Straßenzeitung Apropos, ursprünglich unter dem Namen „Asfalter“, bietet seit 1997 Hilfe zur Selbsthilfe. Menschen in Not kaufen Apropos um 1,25 Euro ein und verkaufen sie um 2,50 Euro.
Derzeit sind 120 Verkäuferinnen und Verkäufer aktiv. „Die Menschen stabilisieren sich in ihrer Lebenssituation durch den Verkauf, sie treten in Kontakt zu anderen Menschen, sie haben eine Tagesstruktur, sind in eine Gemeinschaft eingebunden und verdienen ein Zubrot zur Mindestsicherung, IV-Pension, Pensionsvorschuss oder auch ihren Lebensunterhalt“, sagt Michaela Gründler, seit 15 Jahren Chefredakteurin.
Apropos ist aber noch weit mehr – mit der Straßenzeitung haben die VerkäuferInnen ein professionelles Medium, das von Journalistinnen und Journalisten gemacht wird und in dem sie sich in der Rubrik „Schreibwerkstatt“ auch selbst ausdrücken können.
