Expertin: Genozid unter Armeniern "so präsent wie nie zuvor"

SALZBRUG/ JEREWAN (kap)/ Jedes Jahr am 24. April gedenken die Armenier weltweit des Genozids an ihrem Volk im Osmanischen Reich ab 1915. Das Genozid-Gedenken jährt sich heuer zum 109. Mal, "der Genozid ist aber so präsent wie nie zuvor." - Das hat die Salzburger Armenien-Expertin Jasmin Dum-Tragut am Montag gegenüber Kathpress betont. Bis zu einer Million Armenier kommen jedes Jahr am 24. April zur Gedenkstätte Zizernakaberd ("Schwalbenfestung") in der armenischen Hauptstadt Jerewan, um so das Gedächtnis an die Ermordeten hochhalten. Weltweit werden Gedenkveranstaltungen abgehalten.
Am 24. April 1915 hatten Einheiten der osmanischen Geheimpolizei in Istanbul Hunderte armenische Intellektuelle verhaftet und nach Anatolien deportiert, wo die meisten den Tod fanden. Dies war der Startschuss für den Völkermord an den Armeniern und den Massakern an weiteren Christen syrischer und griechischer Tradition. Die Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen armenische Todesopfer, sowie bis zu weiteren 500.000 Opfern unter Christen anderer Konfessionen.
Der Völkermord an den Armeniern habe nicht nur tiefe Spuren in der armenischen Geschichte hinterlassen und sich nachhaltig auf die angespannten Beziehungen zu den türkischen Nachbarn ausgewirkt, sondern sich auch in die Seele der Armenier eingeschrieben, so Dum-Tragut: "Der Schmerz, die Trauer und die Ohnmacht angesichts dieser historischen Tatsache, und auch die sture Leugnung durch die offizielle Türkei, ist ein Teil der armenischen Identität geworden, insbesondere der armenischen Diaspora." Diese sei vor allem durch den Genozid entstanden, "die Generationen der überlebenden Armenier sind weltweit zu finden, und oft wurden die Lebensgeschichten dieser Überlebenden erst unlängst von ihren Nachfahren entdeckt".
In Armenien selbst hatte es das Sowjetregime bis in die 1960er-Jahre strengstens untersagt, sich eines derart "nationalistischen" Themas anzunehmen, erläuterte Dum-Tragut. Erst zum 50. Jahrestag - 1965 - durften darüber auch in Armenien erstmals gesprochen werden und es wurde daraufhin das Genozid-Denkmal ("Schwalbenfestung") errichtet.
Dum-Tragut: "Bis heute schwankt ein Armenier beim Gedanken an diesen Völkermord zwischen Wut und Schmerz. Jeder muss für sich diese historische Last mit sich tragen und für sich selbst verarbeiten." Viele hätten die Geschichte angenommen und für sich damit abgeschlossen. Viele können aber auch nicht vergessen und forderten nach wie vor, "dass die Türkei sich endlich zu ihrer Schuld bekennt und sich entschuldigt. Und viele verlangen auch gar nicht mehr als das, wie es Deutschland vor einigen Jahren getan hat: Bekennen und entschuldigen."
Verlust von Berg-Karabach 2023
Der Genozid habe die Armenier 2023 wieder eingeholt, "oder eigentlich schon davor, während des Kriegs um Berg-Karabach 2020". Am 19. September 2023 hatte Aserbaidschan schließlich jene nach 2020 noch verbliebenen Gebiete der armenischen Enklave Berg-Karabach mit überlegenen militärischen Mitteln angegriffen. Schon nach einem Tag war der Krieg entschieden. Rund 300 armenische Soldaten waren dabei ums Leben gekommen, auch zivile Opfer waren zu beklagen. Dem Angriff vorausgegangen war eine rund neun Monate dauernde Totalblockade Berg-Karabachs durch Aserbaidschan. Mehr als 110.000 Armenier mussten schließlich im September 2023 über Nacht ihre Heimat verlassen.
Viele Armenier, aber auch internationale Organisationen, hätte die Vorgänge in dem 44 Tage langen Krieg 2020, die menschenverachtende Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbaidschan im vergangenen Jahr und vor allem den erzwungenen Exodus aus Berg-Karabach als Völkermord betrachtet, so die Salzburger Armenologin. Sie verwies u.a. auch auf das "Lemkin Institute for Genocide Prevention", das 2023 und 2024 schon insgesamt sechs "Völkermord-Alarme" hinsichtlich der Situation der Armenier von Berg-Karabach, aber auch hinsichtlich der Übergriffe Aserbaidschans auf die Republik Armenien veröffentlicht hat. Nachsatz: "Das sollte uns zu denken geben."
Menschenrechtspreis für Dum-Tragut
Jasmin Dum-Tragut wurde Samstag in Bonn mit dem diesjährigen Stephanus-Sonderpreis ausgezeichnet, der von der Frankfurter Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen verliehen wird. Die Stiftung würdigt damit Personen, die sich in einer besonderen Weise für Menschenrechte, Religionsfreiheit und den christlichen Glauben einsetzen. Bisherige Preisträger waren u.a. der libanesische Jesuit Prof. Samir Khalil Samir, der Hongkonger Kardinal Joseph Zen Ze-kiun, die iranische Bürgerrechtlerin Fatemeh Mary Mohammadi oder der eriträische Patriarch Abuna Antonius.
Prof. Dum-Traguts Beiträge erstreckten sich "weit über die Grenzen der akademischen Welt hinaus", begründete der Völkerrechtler Gurgen Petrossian von der Universität Erlangen-Nürnberg die Auszeichnung für die Salzburger Wissenschaftlerin. Diese habe eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung des armenischen kulturellen Erbes gespielt und Projekte geleitet, "die Licht auf wenig bekannte Aspekte der armenischen Geschichte und des Lebens warfen".
Neben Dum-Tragut wurde auch noch der im Exil lebenden armenischen Menschenrechtsaktivist aus Bergkarabach, Gegham Stepanyan, ausgezeichnet. Der Politikwissenschaftler hatte das Amt des Ombudsmanns für Menschenrechte in der schwierigsten und letzten Phase der Existenz Berg-Karabachs übernommen, im März 2021 - nur wenige Monate nach dem Krieg von 2020. Er koordinierte unter anderem auch die Suche nach gefallenen Soldaten und verschwundenen Zivilisten.
Stepanyan forderte bei der Preisverleihung stellvertretend für die Bevölkerung von Berg-Karabach die Freilassung ihrer von Aserbaidschan seit 2023 gefangen gehaltenen Repräsentanten sowie der Kriegsgefangenen, die seit 2020 festgehalten werden.